1.1 Kurzzusammenfassung
Im Sommer 2022 wurde ein weiterer erfolgreicher Kalkbrand in einem traditionellen Ofen in Sur En da Sent durchgeführt. Dabei wurden rund 15 Tonnen Dolomitkalksteine aus der Val Trigl in der Nähe von S-Charl mittels Holzfeuerung zum Glühen gebracht und zu Dolomitstückkalk transformiert.
Die Energieflüsse lassen sich nicht nur in Massenangaben des verwendeten Holzes (60 Ster), des Kalkertrags (7’000kg) und der vielen Arbeitseinsätzen der Freiwilligen (>1’0000 Stunden) messen.
Das Kalkbrennen ist ein eindrückliches soziokulturelles Ereignis. Die mit der Kalkherstellung verbundenen Prozesse werden physisch begreifbar. Durch das Mitwirken an diesem sinnstiftenden Gemeinschaftswerk ziehen die Teilnehmenden selbst Wertvolles für sich daraus.
1.2 Programm
Begonnen wurde Mitte Juli mit dem Aufbau der temporären Infrastruktur: Gedeckter Bereich zum Kochen, Pavillons für die Workshops, Tipi als Schlafstelle für die Helfenden, Regenschutz vor dem Kalkofen und Komposttoilette.
Am Montag (18.07.2022) sammelte ein starkes Team 2 grosse Muldencontainer voller Dolomitsteine. Die Gemeinde Scuol hat uns mit einem Pneulader beim Verlad unterstützt. In den nächsten 3 Tagen mauerte Joannes Wetzel mit Helfenden die Dolomitsteine im Kalkofen auf. Am Freitag wurde noch fleissig Holz gespalten und griffbereit beim Ofen aufgeschichtet.
Das Feuer wurde am Montag (25.07.2022) entfacht und bis zum Sonntag (31.07.22) während 7 Tagen ununterbrochen in Gang gehalten.
Nach einer Abkühlzeit von einer Woche wurde der hergestellte Stückkalk in luftdichte Fässer gefüllt und ins Lager in Sur En gebracht. Am letzten Tag(12.08.2022) konnten die Aufräumarbeiten abgeschlossen werden.
2.1 Erkenntnisgewinne im Handwerk der traditionellen Kalkbrennerei
Aufgrund von thermogravimetrischen Analysen (TGA) im Labor für Multifunktionsmaterial der ETH Zürich des von uns verwendeten Dolomitkalks, wussten wir, dass der Zersetzungsprozess bereits bei 850°C stattfindet. Wir haben vom kalkwerk-Mitglied und ETH-Chemiker Prof. Dr. Walther Caseri gelernt, dass während des Zersetzungsprozesses des Calciummagnesiumcarbonats Energie in Form von Wärme entzogen wird. Das heisst, es handelt sich um eine endotherme Reaktion. Um den Prozess zu optimieren und Holz zu sparen, sind wir mit niedrigeren Temperaturen gefahren als bei den letzten Kalkbränden, also 800°-900°C anstatt 1’000°-1’100°C. Da jedoch der Dolomit eine schlechte Leitfähigkeit hat, kann es länger dauern, bis auch die Kerne der bis zu 40kg schweren Steine durchgebrannt sind. Der Aufbau der Trockenmauerkonstruktion aus Dolomitsteinen im Kalkofen bedingt verschiedene Steinformen und Grössen. Diesmal haben wir versucht, insgesamt grössere Steine zu verwenden für eine bessere Durchlüftung und ein besseres Zugverhalten während des Brandes. Dieser Effekt des besseren Zuges konnte dann auch beobachtet werden. Jedoch werden wir nächstes Mal auf eine nach oben verlaufende Abstufung der Steingrössen achten, damit die obersten Steine, welche erst zum Schluss die Endhitze erhalten, schneller durchgebrannt sind und keine ungebrannten Kerne übrigbleiben. Ausserdem haben wir zur Befeuerung zum ersten Mal Abschnitte aus der Sägerei (Fichte/Tanne mit viel Splintholz) verwendet. Möglichst trockenes und möglichst dünn gespaltenes Holz (Fichte, Lärche, Arve) erwies sich als ideal für eine gute Flammen- und reduzierte Rückstandsbildung in Form von Asche und Kohle. Frühere Erfahrungen haben gezeigt, dass Buchenholz ungeeignet ist, da die nötigen Temperaturen nicht erreicht werden können und sich eine grosse Menge an Kohle und Asche ansammelt.
2.2 Kulturelle Teilhabe, Wissenszugang und -Vermittlung
Es stand allen Menschen offen, jederzeit beim Kalkbrand vorbeizuschauen, Fragen zu stellen und mitzuhelfen. Dieses Angebot wurde besonders während des Brandes rege genutzt von spontanen Besuchen bis hin zu den im Voraus geplanten Familienferien, um bei dem Ereignis dabei sein zu können. Zusätzlich gab es geführte Exkursionen und Workhops zu verschiedenen Themen im Zusammenhang mit Kalkkultur.
Am 23.07.2022 fand eine Wanderung von Ramosch bis Sur En statt. Zuerst besichtigten wir ein typisches Wohn- und Wirtschaftsgebäude, welches nach dem Dorfbrand von 1880 von italienischen Handwerkenden mit Kalk wiederaufgebaut wurde. Danach besuchten wir die St. Florinus Kirche (1522) und erhielten eine spannende Führung von Pfarrer Christoph Reutlinger. Er gewährte einen erfrischenden Einblick in die Geschichte der Kirche und das damalige Dorfleben von Ramosch.
Nach einem Abstecher zur imposanten Burgruine Tschanüff spazierten wir runter zum Inn, um die Kalkofenruinen anzusehen, welche zuletzt für den Wiederaufbau von Ramosch Ende des 19Jh. in Betrieb waren. Die 2017 restaurierte Chalchera Stella in Sur En war der Endpunkt dieser Wanderung. Anschliessend an die Generalversammlung von kalkwerk gab es ein kleines Grillfest.
Am 27.07.2022 fand eine Wanderung von Sur En da Sent ins Val d’Uina statt. Restaurierte und noch verfallene Kalköfen säumen den Weg. Für den Bau des Weilers Uina Dadora wurden mindestens drei Kalköfen gebaut. Heute sind vom kleinen Dorf nur noch zwei Wohnhäuser und Stallungen übrig, der Rest ist Lawinen zum Opfer gefallen. Die Häuser aus Stein, Kalk und Holz wurden 1590 und 1751 erbaut und gehören zu den äusserst seltenen ursprünglichen Engadiner-Wohnhäusern mit Wirtschaftsteil, welche noch in ihrer Originalstruktur erhalten sind. Durch einen glücklichen Zufall erhielten wir einen Einblick ins Innere der Häuser. Sidonia Kleingutti, welche eine ausführliche Maturaarbeit über den Ort verfasst hatte, gab uns bereitwillig Einlass und Auskunft.
Am 28.07.2022 fand ein Sgraffito-Workshop statt. Beim Sgraffito handelt es sich um eine verzierende Kratztechnik in den frischen Kalkmörtel, welche in der Renaissance von Italien ins Engadin gewandert war. Im Workshop konnten alle Teilnehmenden ein eigenes Sgraffito auf einer Platte erstellen, indem sie zwei Aufträge mit einem Sand-Sumpfkalk-Gemisch und drei Kalkmilchanstriche machten. Die gewünschten Motive entstanden, indem sie die Kalkmilch mit einem Kratzwerkzeug entfernten und der Kontrast von Feinputz und Anstrich zum Vorschein kam. Eigentlich kinderleicht, auch Nachwuchstalente von 4-9 Jahren überzeugten mit ihren künstlerischen Fertigkeiten.
2.3 Herstellung Dolomitkalk als regionale Besonderheit
Das Brennen von Dolomit (Calciummagnesiumcarbonat) wurde bereits von den Römern praktiziert. Die chemischen Abläufe beim Dolomitkreislauf sind komplexer als die von reinem Kalkstein (Calciumcarbonat). Der im Engadin vorkommende Dolomit ist sehr homogen und hat hervorragende Eigenschaften bezüglich Frostbeständigkeit und Druckfestigkeit. Die genauen Prozesse beim Löschen und beim Abbinden von gebranntem Dolomit (Magnesiumoxid und Calciumoxid) sind relativ unerforscht.
2.4 Verfügbarkeit Material für historische Bauten
Die mineralisch errichtete Gebäudestruktur der Region, welche älter als 70 Jahre ist, besteht aus der regionalen Ressource Dolomit. Nun an die 7 Tonnen einheimisches Bindemittel zur Verfügung zu haben für den Erhalt und Weiterbau historischer Gebäude, ist unfassbar wertvoll. Insbesondere, da in der Schweiz nirgends sonst Dolomit gebrannt wird. Zum Einsatz kommt der gewonnene Stückkalk unter anderem bei der Klosteranlage in Müstair, bei der Restaurierung des Kalkofens in Guarda, bei der Umfassungsmauer der Kapelle von S-Charl, beim Wiederaufbau des Käsekessi der Alp Tamangur und bei Restaurierungen von Gebäuden aus dem 16Jh.-19Jh in Sclamischot, Ramosch, Sur En und Scuol.
2.5 Transdisziplinäre Vernetzung und Wissensaustausch
Der Ort der Chalchera war ein idealer Treffpunkt sowohl für auf Kalk neugierige Menschen, als auch für fachspezifische Profis. Bei Pfadi-ähnlichen Bedingungen fand tatsächliche Teilhabe und Vernetzung statt. Das gemeinsame Kochen, Steine schleppen, Holzen, Feuern und Kalk-Ernten verbindet über den Kalkbrand hinaus. Es bietet Raum für Gespräche zwischen Handwerker:in und Geolog:in, zwischen Künstler:in und Chemiker:in, zwischen Architekt:in und Steinmetz:in, zwischen Schreiner:in und Denkmalpfleger:in, zwischen Restaurator:in und Brunnenmeister:in, zwischen Filmer:in und Bierbrauer:in, zwischen Journalist:in und Fotograf:in, zwischen Kind und Grosseltern, usw.
2.5 Förderung des Handwerks der Kalkanwendung
Wir sind überzeugt, dass unsere Bemühungen für die Kalkbrennerei hunderte kleine Anstösse liefert, um über Kalkanwendungen nachzudenken. So breiten sich kleine Wellen über grosse Distanzen aus, mit der Idee, wieder mit Kalk handwerklich zu bauen. Durch Vermittlung, Vernetzung und Zugang zu Erfahrungen werden Menschen ermutigt, sich auf das Material einzulassen. Das Spektakuläre eines Kalkbrandes stellt die zeitlose Schönheit und die Beständigkeit von Kalkanwendungen ins Rampenlicht.
3.1 Foschungsbegleitung
Zum ersten Mal wurde beim Brand auch systematisch Daten gesammelt und von Materialwissenschaftler:innen der ETH ausgewertet. Temperatur, verfeuerte Holzmenge und Gewicht von 4 Steinproben wurden periodisch festgehalten. Für die stündlichen Temperaturmessungen wurde mit einem Pyrometer (Laserableser) an 5 bestimmten Punkten die Oberflächentemperatur der Dolomitsteine gemessen. Um abschätzen zu können, wieviel Holz im Verlauf des Kalkbrandes und zu welcher Geschwindigkeit verbraucht wird, wurde eine bestimmte Einheit (ca. 0.7 Ster) festgelegt und aufgeschrieben, zu welchen Zeitpunkten diese fertig verfeuert wurde. Da man weiss, dass der Dolomit 47% seines Gewichtes bei der Transformation zu Calcium- und Magnesiumoxid verliert, wäre die Kontrolle des Gewichtsverlustes ein verlässlicher Anhaltspunkt, um zu wissen, ob die Steine komplett durchgebrannt sind. Die Entnahme der zum Vorraus markierten Steine gegen Ende des Brennvorgangs erwies sich als schwierig. Hitze, Erkennbarkeit und Zerbrechlichkeit der Proben war eine Herausforderung.
3.2 Ort der Teilhabe für Menschen, die aus ihrem Land flüchten mussten
Zudem bot das Projekt einen Ort der Begegnung in der Natur und Teilhabe für eine ukrainische Familie, welche aus ihrer Heimat vertrieben worden war. Die Eltern und ihr 4-jähriger Sohn kamen fast täglich vorbei, halfen mit, und genossen es, Teil einer Gemeinschaft zu sein. Ihre Profession ist die Fotografie und so konnten sie ihre Talente auch einsetzen und schufen wunderbare Bilder dieser Zeit. Wir danken Svetlana Goncharova und Artiom Goncharov für die schönen Begegnungen und für ihre Arbeit.
3.3 Gemeinschaftswerk
Das grosse Interesse an Mitwirkung ist berührend. Dieser Kalkbrand war mehr denn je ein Gemeinschaftswerk. Die Vielfalt der Menschen und ihre Motivation, Engagement und Treue (einige waren zum zweiten, dritten oder gar vierten Mal mit dabei) haben dazu geführt, dass eine liebevolle Stimmung, gute Teamarbeit und ausgezeichnete kulinarische Verpflegung herrschte.
4.1 Regionaler Lehm
Gerne würden wir für den Lehmdeckel, welcher den Kalkofen ab dem zweiten Tag isoliert, regionalen Lehm verwenden (bewährt hat sich bisher Erzlehm der Lohnerziegelei). Im Vorfeld hatten wir mit der Keramikerin Séverine Emery Brennversuche mit dem Lehm aus der Grube der Kieswaschanlage von Sur En gemacht. Das Material erwies sich als nicht „fett“ genug und hat einen zu tiefen Schmelzpunkt für unsere Zwecke.
4.2 Grosser Andrang
Vergleichbar mit einem erfolgreichem Festival, steigen die Besucher:innenzahlen von Mal zu Mal. Da die Platzverhältnisse vor dem Ofen beschränkt sind, führte die grosse Anzahl an Interessierten zeitweise auch zu einer Behinderung der auszuführenden Arbeiten. Wir ermöglichen es einer Vielzahl mitzumachen, dabei gilt es, eine gute Balance von Erfahrung und neuem Ausprobieren zu finden. Das gestiegene Interesse erfordert in Zukunft eine planerische Reaktion.
5.1 Kalkbrand 2024
Um eine Kontinuität sicherzustellen und ein wachsendes Interesse zu befriedigen, planen wir alle 2 Jahre einen Kalkbrand im Unterengadin durchzuführen. Wir sind überzeugt, durch unsere Arbeit einen wichtigen Beitrag zur Baukultur und zum Erhalt (und Neugewinn) von immateriellem Kulturerbe zu leisten. Idealerweise finden wir in Zukunft einen Weg, eine beständigere Finanzierung der wertvollen Arbeit des Vereins zu ermöglichen.
An dieser Stelle wollen wir allen Unterstützenden Danke sagen. Persönliches Engagement von vielen Menschen war massgebend für den Erfolg des Projektes. Wir sind enorm dankbar für dieses Netzwerk, dass uns stärkt, trägt und belebt.
Auch für die finanzielle Unterstützung möchten wir ein herzliches Dankeschön aussprechen.
Besonderen Dank gilt der lokalen Gemeinden Scuol und Samnaun, der kantonalen Denkmalpflege, der Corporaziun Energia Eingiadina (CEE), dem Heimatschutz Engadin und Südtäler, dem Bündner Heimatschutz, der Ernst Göhner-Stiftung, der Willi Muntwyler-Stiftung, dem Fachverband für Kalk Calcina und weitere private Gönner:innen.
Vielen Dank Euch allen!